Viele Tabletten, Pillen und Kapseln liegen durcheinander auf einer Fläche.
Antibiotika retten Menschenleben. Doch immer öfter wirken sie nicht mehr, weil sich resistente Bakterien ausbilden. Das liegt auch an der massiven Antibiotikagabe in der Viehzucht. Kann Kulturfleisch Abhilfe schaffen? Foto: Rainer Sturm/pixelio.de

Wenn Medizin nicht mehr wirkt

Einsatz von Antibiotika in der Viehzucht führt zu resistenten Bakterien

Stand: Oktober 2023

Worum geht es? Seit rund 100 Jahren können sich Menschen mit Antibiotika vor vielen Krankheiten schützen. Doch immer mehr Bakterien werden resistent. Grund ist der zu verschwenderische Einsatz beim Menschen, aber auch und vor allem in der Massentierhaltung. 73 Prozent aller weltweit verkauften Antibiotika werden für Tiere genutzt. 1,3 Millionen Menschen sterben weltweit pro Jahr, weil kein Antibiotikum mehr wirkt. Kulturfleisch könnte dieser Entwicklung Einhalt gebieten. Denn für Kulturfleisch ist keine Massentierhaltung mehr nötig.

 

Antibiotika können Leben retten

 

Ein kleiner Schnitt beim Rasieren, eine unscheinbare Schramme bei der Gartenarbeit – wer würde in der heutigen Zeit deshalb in Todesangst geraten? Schon lange ist die Lebensgefahr durch solch harmlose Verletzungen zum großen Teil gebannt. Und zwar vor allem, weil es Antibiotika gibt. Sie können Leben retten, wenn krankmachende Bakterien dem Körper zu schaffen machen. 

 

Antibiotika: Noch nicht einmal 100 Jahre im Einsatz

 

Heutzutage macht sich niemand Sorgen, dass er oder sie wegen einer kleinen Wunde, die sich entzündet, sterben könnte. Man ist daran gewöhnt, dass Infektionen notfalls mit einem Antibiotikum behandelt werden können. Das war nicht immer so: Es ist noch nicht einmal 100 Jahre her, da entdeckte der britische Mediziner Alexander Fleming (zufällig) die antibakterielle Wirkung von Penizillin, das als eines der ältesten Antibiotika gilt. Ab den 1940er Jahren begründete es den Siegeszug der Antibiotika in der Medizin. (1) 

 

Entdecker warnte schon 1945 vor Resistenzen

 

Nun hatte man ein wirksames Mittel beispielsweise gegen Blutvergiftung, Hirnhautentzündung, Lungenentzündung und Tripper. (2) Doch schon 1945, als Alexander Fleming für seine Entdeckung gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern den Nobelpreis gewann, warnte er vor einem unsachgemäßen Gebrauch des Arzneimittels.

 

Bei seiner Rede zur Preisverleihung sagte er: „Es besteht die Gefahr, dass die Mikroben lernen, resistent gegen Penicillin zu werden. Und wenn die Mikrobe einmal resistent ist, bleibt sie auch für lange Zeit resistent. Verlässt sie dann den Körper, könnte sie andere Menschen infizieren, ohne dass Penicillin helfen kann. Der erste Patient ist dann durch seinen gedankenlosen Umgang mit Penicillin möglicherweise verantwortlich für den Tod seines besten Freundes.“ (3) 

 

Zur Info: „Mikrobe“ ist die Kurzform von „Mikroorganismus“. Mikroben sind also mikroskopisch kleine Organismen – Lebewesen, die mit bloßem Auge nicht erkennbar sind. Hierzu gehören auch Bakterien. (4) 

 

Pro Jahr sterben 1,3 Millionen Menschen, weil Antibiotika nicht mehr wirken

 

Flemings sorgenvolle Vorhersage scheint sich längst zu bewahrheiten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzte im Dezember 2022, dass jedes Jahr weltweit 1,3 Millionen Menschen sterben, weil Antibiotika bei ihren Infektionen nicht wirken.

 

Allein 35.000 Menschen sterben auf diese Weise pro Jahr im Europäischen Wirtschaftsraum (also die EU plus Island, Liechtenstein und Norwegen) (5) aufgrund von Antibiotika-Resistenzen. Das berichtet die EU-Gesundheitsbehörde ECDC. (6) 

 

In Deutschland erkranken laut Robert Koch Institut (RKI) jährlich rund 54.500 Menschen an Infektionen durch Antibiotika-resistente Erreger und etwa 2.400 Menschen sterben pro Jahr daran. (Stand: November 2018) (7)  

 

Problem: Zu viel Antibiotika in der Tiermast

 

Was hat diese Entwicklung nun mit dem Verzehr von Fleisch zu tun? Nicht nur Menschen, auch Tiere erhalten Antibiotika – insbesondere in der landwirtschaftlichen Viehzucht kommt da viel zusammen.

Tiere erhalten inzwischen sogar mehr von der Arznei als Menschen: 73 Prozent aller weltweit verkauften Antibiotika werden für Tiere genutzt, heißt es im Fleischatlas von 2021. Die Heftreihe ist ein Kooperationsprojekt von Heinrich-Böll-Stiftung, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland und Le Monde Diplomatique. (8) 

Zahlreiche Puten mit weißen Federn und roten Hälsen stehen dichtgedrängt in einem Maststall. Im Hintergrund ist eine Fensterreihe zu sehen.
Im Schnitt bekommt jeder Deutsche innerhalb von 10 Jahren 47 Tagesdosen Antibiotika. Die von ihm in dieser Zeit verzehrten Tiere allerdings sage und schreibe 219 Tagesdosen. Foto: Uschi Dreiucker/pixelio.de

Das Problem bei die Sache: Je mehr und je öfter Antibiotika zum Einsatz kommen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich resistente Keime entwickeln. Es entstehen also Bakterien, die unempfindlich gegenüber gewissen Antibiotika sind. Dadurch können Medikamente bei erkrankten Menschen oder erkrankten Tieren ihre Wirkung verlieren. (9)

 

Denn Tiere und Menschen werden oft von denselben Krankheitserregern infiziert, mit denselben Antibiotika behandelt und haben somit gegenseitig einen Einfluss auf die Resistenzproblematik. (10)

 

Ein zu sorgloser Umgang mit Antibiotika sowohl in der Humanmedizin als auch in der landwirtschaftlichen Tierhaltung hat in den vergangenen Jahrzehnten zur Ausbreitung solcher Resistenzen beigetragen. (11)

 

Metaphylaxe: Ein Tier ist krank, die ganze Herde wird behandelt

 

In der Massentierhaltung ist es zudem oftmals nicht so, dass nur das kranke Tier Antibiotika erhält: Es wird teilweise auch dann behandelt, wenn ein anderes Tier in der Herde Symptome zeigt. Der Fachbegriff dafür lautet „Metaphylaxe“. (12) (13)

 

Tiere bekommen viereinhalb Mal so viel Antibiotika wie Menschen

 

Auch sogenannte Reserve-Antibiotika werden längst in der Tiermast eingesetzt. Damit hat sich das Resistenzproblem nochmals zugespitzt. (14) Ein Reserveantibiotikum wird bei Infektionen mit Bakterien dann eingesetzt, wenn nichts anderes mehr geht. Das heißt, wenn die Bakterien gegen die gängigen Antibiotika resistent sind. Im Schnitt, so teilt es die Verbraucherzentrale Niedersachsen mit, bekommt jeder Deutsche innerhalb von 10 Jahren 47 Tagesdosen Antibiotika. Die von ihm in dieser Zeit verzehrten Tiere allerdings sage und schreibe 219 Tagesdosen. (15)

 

„Vorteil“ in der Mast: Antibiotika lassen Tiere schneller wachsen

 

Auch nicht gerade förderlich ist folgender Umstand: Bis 2006 wurden Antibiotika in der Europäischen Union sogar verabreicht, um das Wachstum zu fördern. (16) Der Spuk ist jedoch noch nicht vorbei: In vielen Ländern außerhalb Europas werden so genannten Nutztieren immer noch Antibiotika verabreicht, damit sie schneller Fleisch ansetzen. „Diese massenhafte und routinemäßige Anwendung von Antibiotika, die oft einfach über das Trinkwasser gegeben werden, fördert die Verbreitung resistenter Bakterien“, erläutert die Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt. (17)

 

Antibiotika-Einsatz in Deutschland geht zurück, ist aber immer noch hoch

 

In Deutschland ist der Einsatz von Antibiotika in der Viehzucht in den vergangenen Jahren zwar zurückgegangen. Ein Grund: Seit 2011 müssen pharmazeutische Unternehmen und Großhändler melden, wie viel Antibiotika sie an Tierärztinnen und Tierärzte in Deutschland abgegeben haben. In den 10 Jahren darauf ist die Menge der in der Tiermedizin abgegebenen Antibiotika um rund zwei Drittel zurückgegangen. (18)  

 

Entwarnung also? Eher nicht. Denn Deutschland ist 2011 auf einem hohen Niveau gestartet und hat im Vergleich zu anderen Ländern immer noch einen hohen Antibiotikaverbrauch in der Landwirtschaft: Ein aussagekräftiges Bild ergibt sich laut eines Reports der Umweltorganisationen Germanwatch und Deutsche Umwelthilfe erst, wenn man den deutschen Antibiotikaeinsatz nicht allein in Tonnen betrachtet, sondern ins Verhältnis setzt: Tierärzte und Tierärztinnen in Deutschland haben demnach 2021 mit 73,2 Milligramm Antibiotika pro Kilogramm Fleisch noch immer eine enorm hohe Menge Antibiotika eingesetzt – zweieinhalbmal so viel wie Großbritannien und fast siebenmal so viel wie Schweden. (19)

 

Einsatz von Antibiotika steigt weltweit um 8 Prozent

 

Und schaut man sich die globale Entwicklung an, sieht die Situation noch viel schlimmer aus: Der Einsatz von Antibiotika in der Tiermast wird nicht weniger, sondern steigt bis 2030 voraussichtlich noch einmal um 8 Prozent an. Das haben Schweizer Forscher von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich ermittelt. (20)

 

Warum sollte der Einsatz von Antibiotika bei Kulturfleisch zurückgehen?

 

GFI: Kulturfleisch benötigt keine Antibiotika

 

Die Hoffnung: Kultiviertes Fleisch kann ohne Antibiotika hergestellt werden. Das schreibt zumindest das Good Food Institute (GFI) in seinem Handbuch „Wissenswertes zum Thema kultiviertes Fleisch“ (Stand: August 2023) (21) Das Good Food Institute ist eine gemeinnützige Organisation, die pflanzliche und zellbasierte Alternativen zu tierischen Produkten, insbesondere Fleisch, Milchprodukten und Eiern, fördert.

 

Sollte Antibiotika bei Kulturfleisch unnötig sein, könnte man die Wirkung von Antibiotika bewahren, ohne dass die Menschen auf liebgewonnene Lebensmittel verzichten müssten, so das GFI.

Ein Mann mit Brille und Oberhemd hält ein aufgeklapptes Hamburgerbrötchen in die Kamera, das mit einem Fleisch-Patty aus Kulturfleisch belegt ist.
Professor Dr. Mark Post von der Universität Maastricht geht davon aus, dass keine Antibiotika mehr benötigt werden, wenn Kulturfleisch im großen Maßstab in sterilen Systemen produziert wird. Foto: Good Food Institute (GFI)/Mosa Meat

Umweltbundesamt: Es ist unklar, ob weniger Antibiotika benötigt werden

 

Doch nicht jeder ist davon überzeugt, dass Kulturfleisch gänzlich ohne Antibiotika auskommen wird. Selbst bei antibiotikafreier Haltung der verbleibenden Spendertiere bleibe unklar, ob Antibiotika dennoch für die Zellkulturen des Kulturfleischs notwendig seien, schreibt das Umweltbundesamt in seiner Trendstudie „Fleisch der Zukunft“ (Stand: Juli 2020). (22)

 

Bei der Herstellung des ersten In-Vitro-Burgers, der 2013 in London vorgestellt wurde, seien jedenfalls Antibiotika verwendet worden. Es wird in dem Bericht jedoch auch darauf hingewiesen, dass Professor Dr. Mark Post von der Universität Maastricht, davon ausgeht, dass keine Antibiotika mehr benötigt werden, wenn Kulturfleisch im großen Maßstab in sterilen Systemen produziert werde. Post ist Mitbegründer des niederländischen Unternehmens Mosa Meat, das den ersten Kulturfleisch-Burger in London vorgestellt hatte. 

 

Karlsruher Forscherinnen: Antibiotika-Einsatz noch offen

 

Auch die Wissenschaftlerinnen Inge Böhm, Arianna Ferrari und Silvia Woll vom Karlsruher Institut für Technologie haben sich in ihrer Ausarbeitung „In-vitro-Fleisch: Eine technische Vision zur Lösung der Probleme der heutigen Fleischproduktion und des Fleischkonsums?“ (Stand 2017) mit dem Thema beschäftigt. Sie kommen darin zu dem Schluss, dass es noch offen ist, ob die Verwendung von Antibiotika bei Kulturfleisch aufgegeben werden kann. (23)

 

Verbraucherzentrale: Kulturfleisch benötigt weniger Antibiotika 

 

Der Bundesverband der Verbraucherzentrale äußert sich da optimistischer: Vermutlich lassen sich die in der Tierhaltung häufig eingesetzten Antibiotika durch die Produktion von Laborfleisch reduzieren, heißt es in seinem Text „Clean Meat – ist Laborfleisch die Zukunft?“ (Stand: Mai 2023) (24)

 

Dennoch: Die Produktion von Laborfleisch komme meist aber nicht ganz ohne Antibiotika aus, schreibt sie Verbraucherzentrale. Nur bei einer Herstellung unter sterilen Bedingungen könnte man darauf verzichten.

 

Zusammenfassung

 

Die Hoffnung ist, dass für Kulturfleisch kein Antibiotikum mehr verwendet werden müsste. Dadurch könnte der massenhafte Einsatz der Arznei in der Viehzucht der Geschichte angehören. Dadurch würden sich wiederum weniger Resistenzen gegen Antibiotika entwickeln, was viele Menschenleben retten könnte. 

 

Manche glauben fest daran, dass dieses Szenario möglich ist – zum Beispiel das Good Food Institute (GFI) und der Kulturfleisch-Experte Dr. Mark Post. 

 

Dass für Kulturfleisch zumindest weniger Antibiotika eingesetzte werden müssen als für Schlacht-Fleisch, meint der Bundesverband der Verbraucherzentrale. 

 

Wissenschaftlerinnen des Karlsruher Instituts für Technologie sowie das Umweltbundesamt halten sich bedeckt und meinen, dass diese Frage noch nicht wirklich beantwortet werden kann. 

 

Fazit: Die Entwicklung von Kulturfleisch steckt noch in den Kinderschuhen. Da ist es nicht verwunderlich, dass der Beweis, ob für Kulturfleisch weniger oder gar kein Antibiotikum mehr benötigt wird, noch aussteht. Angesichts von 1,3 Millionen Menschen, die pro Jahr sterben, weil Antibiotika nicht mehr wirken, sollte man dieser neuen Fleischherstellung aber auf jeden Fall eine Chance geben.

Quellen: 

1.) Wikipedia

2.) Deutschlandfunk: Entdeckung des Penicillins – ein Zufall 

3.) Deutschlandfunk Kultur: 90 Jahre Penicillin - Entdecker Alexander Fleming warnte früh vor Resistenzen 

4.) Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie e.V.: Was sind Mikroben? 

5.) Europäische Freihandelsassoziation (EFTA): Der Europäische Wirtschaftsraum 

6.) dpa u.a. im Deutschen Ärzteblatt: WHO tief besorgt über Antibiotikaresistenzen und Pharmazeutische Zeitung: Jährlich 35.000 Todesfälle durch Antibiotikaresistenzen 

7.) Robert Koch Institut: Neue Zahlen zu Krankheitslast und Todesfällen durch antibiotikaresistente Erreger in Europa 

8.) Heinrich Böll Stiftung, Fleischatlas 2021, S. 30

9.) Bundesinformationszentrum Landwirtschaft (gehört zur Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung): Antibiotika in der Nutztierhaltung 

10.) Bundesministerium für Gesundheit: Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie, Abschlussbericht DART 2020 

11.) Bundesinformationszentrum Landwirtschaft (gehört zur Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung): Antibiotika in der Nutztierhaltung

12.) Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt: Noch zu viele Antibiotika in der Tierhaltung

13.) MSD Tiergesundheit: Metaphylaxe 

14.) und 15.) Verbraucherzentrale Niedersachsen: Antibiotikaeinsatz im Stall – ohne Tierwohl wenig Chance auf Besserung 

16.) und 17.) Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt: Noch zu viele Antibiotika in der Tierhaltung 

18.) Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE): Wie hat sich der Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung entwickelt?

19.) Germanwatch: Antibiotika schützen, Resistenzen bekämpfen 

20.) Spektrum.de: Globaler Antibiotikaeinsatz steigt noch weiter 

21.) Good Food Institute (GFI): Handbuch - Wissenswertes zum Thema kultiviertes Fleisch 

22.) Umweltbundesamt: Die Zukunft im Blick: Fleisch der Zukunft 

23.) Böhm, Inge; Ferrari, Arianna; Woll, Silvia: In-vitro-Fleisch : Eine technische Vision zur Lösung der Probleme der heutigen Fleischproduktion und des Fleischkonsums? 

24.) Verbraucherzentrale Bundesverband: Clean Meat – ist Laborfleisch die Zukunft?